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ROGER BITTERER

Zu den Arbeiten
Roger Bitterer greift die alte Technik des barocken Trompe-l'oeil-Bildes auf. Er nimmt eine Rücküberführung des Materialbildes ins Medium Malerei vor. Roger Bitterer interessiert sich dafür, wie ein banaler Alltagsgegenstand durch Kunst mit Bedeutung aufgeladen werden kann. Der Gegenstand, der als Readymade zum Kunstwerk geadelt worden ist, erfährt eine weitere Bedeutungssteigerung, wenn Bitterer ihn auch noch abmalt, also viel Arbeit in ihn investiert. Außerdem erfahren die Gegenstände einen weiteren Bedeutungszuwachs, wenn er sie so aussucht, dass sie an zeitgenössische künstlerische Positionen erinnern, die man mit einer großen Würde verbindet: mit leeren Din-A-4-Blättern zitiert er die Minimal Art, mit parallel gerichteten Streifen einen Künstler wie Daniel Buren, mit verdoppelten Kissenmotiven Mark Rothko. Eine sehr alte europäische Technik wird so auf einen aktuellen Stand gebracht. Ein weiteres Moment, das ihn interessiert, ist die Irritation, die er selbst beim Wahrnehmen der Wirklichkeit erfährt. Sie will er weitergeben, indem er den Betrachter aufs Glatteis führt: erst bei näherem Hinsehen entdeckt dieser, dass die Gegenstände, die er vor sich hat, nicht wirklich, sondern gemalt sind.

Interview
Roger Bitterer und Berthold Naumann am 9.10.1997 in Echterdingen

Berthold Naumann: Als ich zum ersten Mal hier im Atelier war und du mir deine Arbeiten gezeigt hast, da ging es mir so, dass ich zuerst einmal total verblüfft war, wie genau du hinsiehst und wie gekonnt du das dann auf die Leinwand überträgst. Das Tolle und Faszinierende daran ist für mich, dass es bei dieser artistischen Wirkung nicht bleibt. Es gehen beim weiteren Hinschauen Fantasieräume auf. Dabei ist so anregend, dass nicht alle Teile der Bilder gleich dicht am Vorbild gemalt scheinen, sondern dass es Partien gibt, wo nicht mehr unbedingt der Gegenstand an sich im Vordergrund steht, sondern eher das, was auf ihm oder mit ihm passiert.


Roger Bitterer, "Ohne Titel", Öl auf Hartfaser, 40 x 30 cm

Bei dem Bild mit den beiden Kreppstreifen an den Seiten und dem zerknitterten Papier in der Mitte geht es mir z.B. so, dass mir da eine Felswand einfällt oder auch ein Handteller mit seiner Hautstruktur und dergleichen. Beim ersten Hinsehen ist man erst einmal verblüfft, dass die Dinge gemalt sind, man sieht erst einmal ganz genau hin. Und dann weitet sich das aber wieder und man kann in einen großen inneren Raum reinkommen und die Fantasie spielen lassen.

Roger Bitterer: Ja, das ist auch meine Absicht. Das Artistische ist als Selbstzweck völlig entbehrlich. Nur bin ich in meinem Fall darauf angewiesen, weil ich eben möglichst nah am Gegenstand sein möchte, den Gegenstand vergegenwärtigen möchte. Deshalb brauche ich diese artistischen Mittel. Das andere, was du Fantasieräume genannt hast, das kommt daher, möchte ich sagen, weil ich auf der anderen Seite trotz dieser genauen Darstellungsweise eigentlich jemand bin, der durch das Erscheinungsbild von Realität verunsichert ist. Dieses Verunsicherungsgefühl möchte ich auch weitergeben. Und deshalb wähle ich mir meist Gegenstände, die man im Grunde als solche gar nicht ansprechen kann. Also z.B. ein leeres Blatt, auf dem gar nichts draufsteht, oder ein changierendes Seidenband, das bei jeder Kopfbewegung schon wieder völlig verändert ist. Die liegen irgendwo zwischen fast nicht mehr Vorhandensein und extremer Präsenz. Und das finde ich auch inhaltlich wieder ein sehr interessantes Arbeitsfeld. Im Prinzip ist es doch so, dass man durch seine Aufmerksamkeit einen Gegenstand erst erschafft. Vorher ist er ja als ein Gegenstand der Betrachtung nicht vorhanden. Wenn ich jetzt z.B. dieses Blatt Schreibmaschinenpapier nehme, dann ist es nur ein Gebrauchsobjekt, das beschrieben werden soll, aber es wird nicht angeschaut als Gegenstand.

 
Roger Bitterer, "Ohne Titel", Öl auf Hartfaser, 40 x 30 cm

Kein Mensch kommt darauf, zu schauen: hat das Wellen? Hat das Knicke? Und erst durch diesen artistischen Verwandlungsprozess wird es dann zu etwas. Und im Grunde ist es mit allen Gegenständen so, wenn man malt. Denn, so richtig anschauen, wie im Bild, tut man die ja nicht im normalen Leben. Das ist für mich auch eines der ganz wichtigen Momente realistischer Malerei überhaupt, dass Realität nachgeschaffen wird, bzw. dass sie überhaupt erst wieder ins Bewusstsein kommt.

Berthold Naumann: Also bei den Gefäßen ist mir aufgefallen, dass die ja auch in Untersicht gemalt sind, das ist ja wie bei Altarfiguren, und dann kommen eben bei mir, weil ich eine kunsthistorische Ausbildung habe, bei der Glaskaraffe Assoziationen aus der Mariensymbolik, wo das Glasgefäß z.B. dafür stehen kann, dass Christus durch Maria so hindurchgegangen sei wie das Licht durch Glas. Das steht dann für die unbefleckte Empfängnis. Solche Konnotationen spielen da auch eine Rolle.

 
Roger Bitterer, "Ohne Titel, 1996, Öl auf Leinwand, 43,6 x 46,7 cm

Roger Bitterer: Ich bin mir dessen sehr bewusst, wobei ich sie im traditionellen Sinne nicht einsetze. Aber es ist mir insofern bewusst, als für mich beim Bild ganz wesentlich das Motiv der Bedeutungsaufladung ist. Z.B. bei einer ungewöhnlichen Gegenstandskombination bin ich der Meinung, dass diese traditionelle Symbolik der Glasvase auf eine Plastikflasche abfärbt. Das ist dann ein Steigerungsmoment, aber es ist kein konkretes Mariensymbol. Der symbolische Hintergrund ist natürlich mitgedacht. Ähnlich ist es auch mit bestimmten Bildformen, mit bestimmten Kompositionsformen. Das sind Formen aus der Kunstgeschichte, die man sich zunutze machen kann, wenn man eine solche Aufladung anstrebt. Man ist aber nicht unbedingt auf so ganz traditionelle Muster angewiesen, man kann auch Bildmuster aus der Minimal Art aufgreifen, um bestimmte Inhalte auszudrücken, oder etwas zu verstärken.

Berthold Naumann: Ja, dass du bestimmte Strukturen der Kunst der letzten 30 Jahre aufgreifst, wie die serielle Reihung, die minimalistische Schlichtheit oder die Objektkunst, das schafft eine Verbindung zur zeitgenössischen Kunst. Was dich von ihr eher abhebt, ist die Ölmalerei.

 
Roger Bitterer, "Ohne Titel", 1997, Öl auf Leinwand, 40 x 50 cm

Roger Bitterer: Das ist ein Bereich, zu dem man sich schon viel Gedanken macht. Grundsätzlich würde ich sagen, ist Malerei und realistische Malerei als ein Medium unter vielen zu begreifen und nicht per se abzuqualifizieren. Es kommt schließlich auf die Inhalte an. Es werden ja heute auch noch Bücher geschrieben oder Sinfonien komponiert. Da stößt sich auch keiner dran, obwohl man auch mit Computern komponieren kann. Das Sinfonieorchester hat trotzdem noch nicht ausgedient. Dennoch will ich mich vor der Frage nicht drücken. Ich denke, dass die Reflexion des Mediums extrem wichtig ist. Ich glaube, dass ich mir selbst gegenüber am glaubwürdigsten mit realistischer Malerei arbeiten kann. Realität beginnt mich in dem Moment zu interessieren, in dem sie fragwürdig wird. Und das dann mit realistischer Malerei zu reflektieren, das halte ich für sehr sinnvoll. Auch deshalb, weil man die eine oder andere Zuspitzung vornehmen kann, und das macht dann alles deutlicher. Das Wichtigste ist mir dabei die völlige Durchdringung des Bildgegenstandes, die sich mit Hilfe realistischer Malerei erreichen lässt.

Berthold Naumann: Aber dir geht's um die Fragwürdigkeit des Gegenstandes und weniger um die Fragwürdigkeit des Bildes wie z.B. beim Fotorealismus.

Roger Bitterer: Das Bild ist für mich nicht fragwürdig, im Gegenteil. Die Bedeutung des Bildes ist für mich absolut unangezweifelt. Wenn ich heute realistisch male, dann tue ich das natürlich mit einem anderen Erfahrungshorizont, als das in früheren Zeiten geschehen ist. Das sollte schon mit einfließen, denke ich, bei realistischer Malerei heutzutage, dass man sich über den Arbeitsprozess klar ist, dass man auch gewisse moderne Traditionen aufgreift oder sich damit auseinandersetzt. Was für mich vielleicht das Wichtigste ist, das die Moderne zutage gefördert hat, ist eben dieses Moment, Dinge kunstwürdig zu machen, die es eigentlich nicht sind oder es vorher nicht gewesen sind. Und das kann man eben mit realistischer Malerei in ganz besonderer Weise tun. Dabei bin ich zunächst einmal nicht so sehr auf einen Kunstraum angewiesen, sondern ich kann diesen Prozess im Bild selbst abschließen. Und das ist für mich ganz wesentlich. Ich habe einen Rahmen und wenn ich etwas in diesen Rahmen hineinsetze, dann ist es mit Bedeutung aufgeladen. Also genauso wie man irgendwelche Materialien für eine Installation in eine Galerie trägt, dann ist der Rahmen eben die Galerie. Und dadurch ist das Material, das sonst völlig wertlos wäre, durch die Galerie mit Bedeutung aufgeladen.

Berthold Naumann: Gibt es etwas, um das es dir bei alldem letztendlich geht? Kannst du das mit einem Begriff zusammenfassen?

Roger Bitterer: Grundsätzlich kommt es mir darauf an, mich mit dem Dasein auseinander zusetzen. Dasein ist natürlich ein schwammiger Begriff. Er gefällt mir aber ganz gut, weil er die Möglichkeit von Transzendenz zulässt, von Bedeutung, die hinter den Dingen aufleuchtet und über sie hinausweist. Im Grunde meine ich dieses Spannungsfeld, wie es auch schon in bestimmten philosophischen Richtungen gedacht worden ist, z.B. mit der Frage nach den Dingen, die sind, die man anfassen kann, auch nach den Ideen und Bedeutungen, die dahinterstecken, dass bestimmte Gegenstände einem Prinzip gehorchen, als Idee eben, wenn man es platonisch fassen wollte. Dieser ganze Fragenkreis, der beschäftigt mich sehr stark, vor allen Dingen in Bezug auf mich und den Betrachter persönlich: was ist denn nun relevante Realität? Das geht bis hin zu konfektionierten Bildangeboten wie etwa dem Fernsehen. Die haben natürlich wieder einen eigenen Realitätscharakter, aber man kann es nicht anfassen, das ist irgendwie weiter weg. Diese ganzen Schichten, das interessiert mich eigentlich alles.

Berthold Naumann: Du hast am Anfang gesagt, dass dich die realen Gegenstände verunsichern. Verunsichern dich auch die digitalen Bilder?

Roger Bitterer: Nein, die verunsichern mich überhaupt nicht und zwar deshalb, weil ja immer schon im voraus klar ist, dass das eine Illusion ist. Also nehme ich sie sowieso nicht ernst. Wenn ich mir jetzt, was weiß ich, die Teetasse anschaue, die verändert sich ja ständig, das Licht wechselt, wenn ich sie ein paar Mal gespült habe, dann hat sie vielleicht 'ne Macke mehr oder so, oder auch wenn man eine Fläche mit einem bestimmten Tonwert anschaut, mit einer bestimmten Farbe, dann stellt man fest, dass sich beim Fixieren eines bestimmten Punktes die gemachten Wahrnehmungen allmählich verändern, heller oder dunkler, es passiert da eigentlich ständig etwas. Es ist ständig etwas am Wegbrechen oder es kommt etwas hinzu. Digitale Bilder dagegen sind jederzeit wieder abrufbar, genauso wie sie gewesen sind. Das, was einen daran irritieren könnte, das ist lediglich z.B. die Spiegelung des Wohnzimmerfensters auf der Mattscheibe (lacht).

 

Interview
Berthold Naumann und Roger Bitterer am 24. 2. 1999 im Atelier von Roger Bitterer

Berthold Naumann: Du stellst jetzt zum zweiten Mal in meiner Galerie aus. In der ersten Ausstellung waren die älteren Bilder mit dreidimensionalen Gegenständen und Gefäßen von 1995-1996 zu sehen und die gemalten Materialbilder von 1996-97. Die Motive waren Kreppstreifen, Schreibmaschinenblätter, die z.T. geknickt waren, Stoffbänder. Sie waren täuschend echt gemalt und es gab wirklich zunächst eine Verwirrung beim Publikum, ob die Motive echt oder abgebildet waren. Das ist einer der Punkte, warum du dich für diese Trompe-l'oeil-Malerei überhaupt entschieden hast: die Irritation, die du bei der Wahrnehmung der Welt selbst erfährst, weiterzugeben und für den Betrachter erfahrbar zu machen. Ein weiteres wichtiges Moment in deinem Werk ist die Beschäftigung mit dem Banalen, das als Kunstwerk in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rückt und so zu etwas Wertvollem und Beachteten wird. Durch kunsthistorische Anspielungen versuchst du, diese Gegenstände mit der Würde älterer Kunst aufzuladen, ob das jetzt religiöse Bilder bei den Gefäßen waren oder minimalistische und serielle Bestrebungen bei den Kreppstreifen und den leeren Din-A4-Blättern.
Im letzten Jahr hast du nach einer konzeptuellen Phase im Sommer vor allem Arbeiten mit Stoffen und mit Kissen gemalt. Was hat sich seit der letzten Ausstellung verändert?

Roger Bitterer: Diese konzeptuelle Phase hat dazu gedient, verschiedene Materialien auszuprobieren, etwas raumgreifendere Kompositionen zu versuchen, das Repertoire zu überprüfen und zu erweitern. Das schlägt sich jetzt in den aktuellen Arbeiten nieder, wobei ich gemerkt habe, dass die Materialien für mich eigentlich austauschbar sind. Ich habe gemerkt: ich bin kein Materialfetischist, bei zerknülltem Papier oder bei Seidenkissen werde ich also sicher nicht hängen bleiben.


Roger Bitterer, "Ohne Titel", 1999, Öl auf Leinwand, 35 x 35 cm

Grundsätzlich kommen mir besonders die Gegenstände entgegen, die im Material zu einer gewissen Abstraktheit neigen, etwa durch Knittern, eine glänzende Oberfläche oder ein Muster. Das Kissen, das jetzt in der Ausstellung häufiger vorkommt, ist darüber hinaus ein Gegenstand, der schön die Mitte hält zwischen kompaktem Gegenstand und abstrakter Materialwirkung.

 Berthold Naumann: Wenn du Gegenstände auswählst, die an sich etwas Abstraktes haben, bei denen du so etwas herausarbeiten kannst, arbeitest du dann auch dahingehend, dass der Betrachter einen "abstrakten" Blick auf die Gegenstände wirft? Willst du ihn sozusagen von dem Begrifflichen, von dem Wissen, dass es jetzt ein Kissen ist, wegführen, damit er das dann rein visuell wahrnimmt?

Roger Bitterer: Ja, das gehört zu meinem Ansatz. Es geht mir prinzipiell um Wirklichkeitserfahrung. Mir persönlich scheint da der richtige Weg zu sein, wegzukommen vom Geschichtenerzählen, vom Arbeiten mit Symbolen usw., sondern wirklich die Wahrnehmung an sich herauszuschälen und dazu ist einfach eine gewisse Abstraktheit vonnöten, sonst wird der Betrachter immer eine verbale Ebene vorschalten und sich dann verbal das Bild erklären. Das möchte ich nicht. Auf der anderen Seite bleibe ich so nah wie möglich am realen Erscheinungsbild meiner Bildgegenstände. Dieses Changieren, dieses Springen zwischen den Welten, das ist eigentlich das Interessante.

Berthold Naumann: Wenn du dich für solche Gegenstände interessierst, siehst du sie wie ein abstraktes Bild an? Ist das deine eigene Wahrnehmung?

Roger Bitterer: Ja, auf jeden Fall.

Berthold Naumann: Das wird mir jetzt klarer. Wenn man sich normal im Alltag bewegt, dann weiß man ja alles. Man kennt die Gegenstände und benutzt sie ganz einfach. Man muss sich nur anstrengen, wenn man z.B. einen neuen Korkenzieher gekauft hat und noch nicht weiß, wie der funktioniert. Aber dann hat man es gelernt und der Umgang mit ihm wird funktionalisiert, man beachtet ihn dann gar nicht mehr. So kommt man im Alltag auch zurecht. Aber du versuchst, die Begriffe, das Wissen auszublenden und die Gegenstände nicht funktionell anzusehen.

Roger Bitterer: Man könnte es auch einfach mit dem Begriff "ästhetisch" fassen. Es geht mir um ästhetische Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung ist natürlich immer und überall möglich. Aber um das mit einem Kunstwerk umzusetzen, bedarf es eben gewisser Komponenten. Das ist das, was ich vorhin beschrieben habe.

Berthold Naumann: Wichtig ist dir ja auch das Bild im Bild, also dass man nicht beim Gegenstand bleibt, sondern dass man auch darüber hinauskommt beim Betrachten und dabei ein kunsthistorisches Zitat im Gegenstand entdeckt. Ist das auch ein Grund dafür, dass du Materialien wählst, die abstrakt wirken?

Roger Bitterer: Ja, hier besteht ein Zusammenhang. Ich habe versucht, diese verschiedenen Momente, die du am Anfang zusammenfassend noch einmal genannt hast, stärker zusammenzuschweißen. Das Kissen ist viereckig und erinnert von vornherein schon an das Bild an sich, also als abstrakte Form, und von daher neigt das Kissen an sich schon zum kunstgeschichtlichen Kontext, als Gegenstand. Das hat mich interessiert. Oder die gemahlten Rahmen und Passepartout-Ausschnitte: Es ist ja in der Regel so, dass man in einem realistischen Bild einen Wirklichkeitsausschnitt vor sich hat und ich hatte das Bedürfnis, dass dieser Wirklichkeitsausschnitt mit dem realen Bildausschnitt, also mit dem Rahmen oder dem Passepartout, das man normalerweise bei einer Graphik vorblendet, in eins fällt. Ich wollte diese verschiedenen Ebenen zusammenbringen, die Wahrnehmungsebene und den Kunstkontext.

Berthold Naumann: Bei den Kissen spielt auch das alte Motiv des Faltenwurfes eine Rolle.

Roger Bitterer: Genau. Ein Kissen vor einer weißen Wand gesehen oder in einem Rahmen hat außerdem allein schon durch den Farbwert, der da im Viereck sozusagen gegen die Umgebung gesetzt ist, mit Kunstgeschichte zu tun. Ich denke da etwa an die Quadrate von Albers oder vielleicht an ein monochromes Bild von Yves Klein. Mir gefällt der Gedanke, da wieder eine Materialisierung vorzunehmen. Also dass man als Betrachter schon auch das Gefühl hat, hoppla, das ist ein abstraktes Bild, das wieder zum Material geworden ist. Und dabei gewissermaßen überhöht durch realistische Malerei, also wieder in ein einheitliches Medium überführt - im Gegensatz zum Materialbild.

Berthold Naumann: Kannst du etwas zu den Farben sagen. Warum hast du z.B. bei den beiden quadratischen Arbeiten dieses Grün und Orange gewählt?


Roger Bitterer, "Ohne Titel", 1999, Öl auf Leinwand, 30 x 30 cm

 
Roger Bitterer, "Ohne Titel", 1999, Öl auf Leinwand, 30 x 30 cm

Roger Bitterer: Man kann ja grundsätzlich sagen, dass meine Arbeiten farbiger geworden sind seit der letzten Ausstellung. Das kommt sicher auch daher, weil ich gemerkt habe, dass ich mit Farbe sehr viel selbstverständlicher mit Assoziationen spielen kann. Also z.B. "farbige Quadrate" oder "monochromes Bild" oder solche Dinge, das ist bei stark farbigen Arbeiten vielleicht deutlicher als bei den Schreibmaschinenblättern in der letzten Ausstellung. Des weiteren spielt hier ein Phänomen eine Rolle, das sich mit dem Begriff "Reibung" ganz gut beschreiben lässt. Also dieses Grün und das Orange, das letztes Jahr so "in" war und überhaupt alle Modefarben, wenn sie einmal als Modeerscheinung in der Welt sind, dann wird man das so schnell nicht wieder los (lacht), die sind dann besetzt und ich finde es interessant, das dann in den Kunstkontext zu überführen, weil sich hier eine Spannung ergibt. Man ist die Farbe von wo andersher gewohnt und dann ist sie noch in so einem weißen musealen Rahmen drin. Das gibt dann eine leichte Dissonanz. Das empfinde ich als anregend. Natürlich auch die Signalwirkung an sich. Mit den Farben verhält es sich manchmal wie bei der Herstellung eines Readymade, wo ja Gegenstände in den Kunstkontext gebracht werden, die ausgesprochen kunstunwürdig sind. Das Gleiche kann man mit einer Farbe tun, mit einer kreischenden Modefarbe beispielsweise.
Natürlich ist mir nach wie vor wichtig, auch wenn sich das Materialspektrum erweitert hat, dass eine gewisse Alltäglichkeit bei diesen Gegenständen vorherrscht: zu den angepinnten Papieren sind jetzt die Kissen dazugekommen, die Kiste und noch andere Dinge. Zwar wird die dann stark verfremdet, aber ich gehe jetzt nicht in den Laden und kaufe mir irgendeine teure Seide, das fände ich zu artifiziell. Und von daher lagen diese Modefarben nahe, weil es die halt gerade gab in der Abteilung für Gartenmöbel (lacht).

Berthold Naumann: Und die Streifen der Kissen, die du mit Aquarellfarben gemalt hast )?

 
Roger Bitterer, "Ohne Titel", 1999, Aquarell, 30 x 24 cm


Roger Bitterer, "Ohne Titel", 1999, Aquarell, 30 x 24 cm

Roger Bitterer: Das ist aus dem Altkleidersack. Auch der rote Stoff aus der Kiste, das ist einfach ein altes rotes Sakko aus dem Altkleidersack. Das habe ich dann so zusammengeknüllt.

Berthold Naumann: Bei den großen Zeichnungen mit Weißhöhung, wo liegt denn da der Hauptakzent?

Roger Bitterer: Der Hauptakzent liegt da schon auf dem Quadrat und was man ästhetisch damit verbindet, beispielsweise ein hohes Maß an Geistigkeit. Es ist mir natürlich bewusst, wenn man mit so einer Kiste arbeitet, dass da immer wieder auch ein religiöser Kontext assoziiert wird. Ich denke dabei an eine Nische, in der etwas Verehrungswürdiges ausgestellt ist, das sozusagen der Anbetung preisgegeben wird. Das Kissen, das so ganz zentral in einer Nische sitzt, die ihm genau angepasst ist, das hat schon auch etwas Religiöses.

Berthold Naumann: Wie der Betrachter sich das ansieht, das steuerst du auch durch den Rahmen. Wenn du ein quadratisches Format und einen weißen Rahmen wählst, so erinnert das an die Moderne. Und bei den Stoffbildern des letzten Jahres, da hast du ja so einen neobarocken Rahmen gewählt

 
Roger Bitterer, "Ohne Titel",1998, Öl auf Hartfaser, 29 x 23 cm

Roger Bitterer: Ja, das steuert die Wahrnehmung. Ich kann hier mit Assoziationen arbeiten, die Stimmung verändern oder eine besondere Qualität von synthetischer Wahrnehmung erzeugen. Damit meine ich die unterschiedlichen Materialien im Bild, es sind ja nicht viele, aber sie wirken zusammen, was mitunter auch Reibungen ergibt. Das finde ich sehr interessant, das ist ja auch etwas, was im Alltag bei der Realitätswahrnehmung eine Rolle spielt.

Berthold Naumann: Also dass z.B. in einem anderen Bild das Tuch so fein ist und der harte Rahmen diese Verletzungen hat?

Roger Bitterer: Ja genau. Oder gerade bei diesem Barockrahmen, dass man ein Gefühl dafür bekommt, dass der schon älter ist, dass er aber auch "Neo-" ist, vielleicht 20er Jahre.

Berthold Naumann: Innen erinnert der Stoff an einen Fontana, also an die Moderne. Aber der Rahmen ist Neobarock. Die Modernisten haben solche Rahmen ja gehasst wie die Pest. Da ist dann schon auch in deinem Bild ein Konflikt da. Mit den kunsthistorischen Anspielungen, da geht es bei dir in alle neuzeitlichen Epochen. Empfindest du sie als gleich nah? Die barocke Zeit, das 19. Jahrhundert und dann wieder die Kunst der letzten 30 Jahre?

Roger Bitterer: Ja, das muss ich sagen, ich empfinde sie als sehr gleichwertig. Das liegt daran, dass ich als Ölmaler heutzutage gezwungen bin, mein Medium sehr stark zu reflektieren. Deshalb versuche ich auch, in der Kunstgeschichte die jeweiligen Medien zu hinterfragen und ich denke, dass man, wenn man das tut, zu der Erkenntnis kommt, dass die Ähnlichkeiten über die Jahrhunderte hinweg doch sehr stark sind. Es mag auch damit zusammenhängen, dass wir, obwohl uns das vielfach nicht bewusst ist, natürlich mit dem modernen Blickwinkel auch zurückschauen und das, was wir z.B. von der mittelalterlichen Kunst für museumswürdig halten, hat selbstverständlich auch wieder mit der Moderne zu tun. Im letzten Jahrhundert hat man es ins Museum geholt. Und dieser ästhetische Blickwinkel, der steckt einfach in fast allem, was wir heute als Kunst definieren. Dann ist es auch so, dass, wenn man sich anschaut, wie van Eyck verschiedene Medien reflektiert hat, einem das als höchst aktuell erscheinen kann. Von daher sind für mich die Unterschiede da nicht so groß. Es ist für mich vieles gleichermaßen relevant. Das führt auch dazu, dass ich als Maler keinen malerischen Klassizismus pflegen möchte. Weil es für mich auch nicht wichtig ist, dass ich all meine Anregungen unbedingt aus dem Medium Malerei beziehe. Für mich kommen andere Medien auch in Frage.

Biographie
1966  geboren in Hohengehren
aufgewachsen in Freudenstadt-Kniebis
1988 - 1990 Kunstschule Rödel, Mannheim
1990 - 1996 Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe bei Klaus Arnold und Peter Dreher

Roger Bitterer lebt und arbeitet in Winnenden

Einzelausstellungen
1997  Galerie Naumann, Stuttgart
1998 ETZ, Stuttgart
1999 Galerie Naumann, Stuttgart
2002 "Malerei, Zeichnung, Fotografie", Galerie Naumann, Stuttgart
2004 Galerie Altes Rathaus Musberg, Leinfelden-Echterdingen

Gruppenausstellungen
1995 "Überall", Alpirsbacher Galerie, Alpirsbach
"Studenten der Klasse Dreher stellen aus", Freiburg
1996 "Vorbilder und Nachbilder der Malerei", KSK Esslingen
1998 "Stilmix 1", Galerie Naumann, Stuttgart
1999  Revolution in der Box. Die Badische Revolution 1848/49 in der Sammlung Westermann, Städtische Galerie Fruchthalle, Rastatt
"www.galerie-naumann.de", Galerie Naumann, Stuttgart
2000 "New Attitudes", Art Frankfurt (mit Galerie Naumann)
2001 "Barock 2001", Galerie Naumann, Stuttgart
2003 Projektstand "Projektionsfläche", New Attitudes / Art Frankfurt (mit Ute Zeller und Ted Green, mit Galerie Naumann)
"IN OUT", internationales Video-Festival, Prag

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